Die estnische Sprache, eine der finno-ugrischen Sprachen, hat viele interessante Merkmale, die sie von den indogermanischen Sprachen, einschließlich Deutsch, deutlich unterscheiden. Eine dieser Besonderheiten sind die kontinuierlichen Zeitformen, die im Estnischen anders ausgedrückt werden als im Deutschen. In diesem Artikel werden wir die kontinuierlichen Zeitformen in der estnischen Grammatik genauer unter die Lupe nehmen und erklären, wie man sie richtig verwendet.
Grundlagen der estnischen Grammatik
Bevor wir uns den kontinuierlichen Zeitformen widmen, ist es wichtig, einige grundlegende Aspekte der estnischen Grammatik zu verstehen. Estnisch ist eine agglutinierende Sprache, was bedeutet, dass Wortbedeutungen und grammatische Beziehungen durch das Anhängen von Suffixen an die Wortstämme ausgedrückt werden. Das Estnische hat 14 Fälle, was es zu einer der komplexesten europäischen Sprachen in Bezug auf die Deklination macht.
Im Gegensatz zu den meisten indogermanischen Sprachen hat das Estnische keine Artikel und keine Geschlechter. Die Zeiten werden hauptsächlich durch Suffixe und Hilfsverben gebildet, was auch für die kontinuierlichen Zeitformen gilt.
Kontinuierliche Zeitformen im Estnischen
Im Deutschen verwenden wir die Verlaufsform, um Handlungen zu beschreiben, die gerade im Gange sind oder über einen bestimmten Zeitraum andauern. Dies geschieht in der Regel mit der Konstruktion „sein + Partizip I“ (z.B. „Ich bin am Laufen“). Im Estnischen gibt es keine direkte Entsprechung für diese Konstruktion, aber es gibt andere Mittel und Wege, um ähnliche Bedeutungen auszudrücken.
Gegenwärtige kontinuierliche Zeitform
Im Estnischen wird eine Handlung, die gerade stattfindet, oft durch das einfache Präsens ausgedrückt. Es gibt jedoch auch eine spezielle Konstruktion, die der deutschen Verlaufsform ähnelt. Diese Konstruktion besteht aus dem Verb „olema“ (sein) und dem inessiven Gerundium des Hauptverbs.
Beispiel:
– Ich bin am Lesen. (Deutsch)
– Ma olen lugemas. (Estnisch)
In diesem Beispiel ist „olen“ die Präsensform des Verbs „olema“ und „lugemas“ ist das inessive Gerundium von „lugema“ (lesen).
Vergangene kontinuierliche Zeitform
Für Handlungen, die in der Vergangenheit andauerten, verwendet das Estnische das Präteritum oder das Perfekt in Kombination mit dem inessiven Gerundium.
Beispiel:
– Ich war am Lesen. (Deutsch)
– Ma olin lugemas. (Estnisch)
Hier sehen wir die Vergangenheitsform von „olema“ („olin“) und das inessive Gerundium von „lugema“ („lugemas“).
Eine weitere Möglichkeit, die vergangene kontinuierliche Zeitform auszudrücken, besteht darin, das Präteritum oder Perfekt des Hauptverbs zu verwenden, oft in Kombination mit temporalen Adverbien.
Beispiel:
– Ich las gerade, als du anriefst. (Deutsch)
– Ma lugesin just, kui sa helistasid. (Estnisch)
Hier wird „lugesin“ (ich las) verwendet, um eine fortlaufende Handlung in der Vergangenheit zu beschreiben, und „just“ (gerade) gibt den zeitlichen Kontext an.
Zukünftige kontinuierliche Zeitform
Für zukünftige Handlungen, die andauern werden, verwendet das Estnische das Futur oder die Konstruktion „hakkama + Infinitiv“. Das Verb „hakkama“ bedeutet „beginnen“ oder „anfangen“, und zusammen mit dem Infinitiv des Hauptverbs kann es eine Handlung ausdrücken, die in der Zukunft stattfinden wird.
Beispiel:
– Ich werde lesen. (Deutsch)
– Ma hakkan lugema. (Estnisch)
Diese Konstruktion („hakkama + Infinitiv“) kann auch eine kontinuierliche zukünftige Handlung beschreiben.
Verwendung des Inessiven Gerundiums
Wie bereits erwähnt, spielt das inessive Gerundium eine wichtige Rolle bei der Bildung der kontinuierlichen Zeitformen im Estnischen. Es wird gebildet, indem man das Suffix „-mas“ an den Stamm des Verbs anhängt.
Beispiele:
– Lugema (lesen) – lugemas (am Lesen)
– Kirjutama (schreiben) – kirjutamas (am Schreiben)
Das inessive Gerundium kann auch verwendet werden, um eine Handlung zu beschreiben, die im Gange ist, ohne dass ein Hilfsverb benötigt wird.
Beispiel:
– Ma olen kirjutamas. (Ich bin am Schreiben.)
– Ma tulen lugemas. (Ich komme vom Lesen.)
Unterschiede zum Deutschen
Einer der Hauptunterschiede zwischen der estnischen und der deutschen Grammatik besteht darin, dass das Estnische keine spezielle Konstruktion für die Verlaufsform hat, wie sie im Deutschen existiert. Stattdessen verwendet das Estnische das inessive Gerundium und temporale Adverbien, um den kontinuierlichen Aspekt einer Handlung auszudrücken.
Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass das Estnische keine Artikel und keine Geschlechter hat, was die Struktur der Sätze vereinfacht, aber auch zu Missverständnissen führen kann, wenn man versucht, estnische Sätze direkt ins Deutsche zu übersetzen.
Praktische Tipps zum Lernen der kontinuierlichen Zeitformen
Das Erlernen der kontinuierlichen Zeitformen im Estnischen kann eine Herausforderung sein, insbesondere für deutschsprachige Lernende. Hier sind einige praktische Tipps, die Ihnen helfen können:
1. Üben Sie mit Beispielsätzen:
Erstellen Sie Beispielsätze in verschiedenen Zeitformen und übersetzen Sie sie ins Estnische. Dies hilft Ihnen, ein Gefühl für die Verwendung des inessiven Gerundiums und der entsprechenden Hilfsverben zu entwickeln.
2. Verwenden Sie temporale Adverbien:
Temporale Adverbien wie „just“ (gerade), „praegu“ (jetzt) und „kohe“ (sofort) können Ihnen helfen, den zeitlichen Kontext einer Handlung zu verdeutlichen.
3. Hören Sie estnische Medien:
Das Hören von estnischen Radiosendungen, Podcasts oder das Ansehen von Filmen und Serien kann Ihnen helfen, die kontinuierlichen Zeitformen in ihrem natürlichen Kontext zu verstehen.
4. Sprechen Sie mit Muttersprachlern:
Der Austausch mit Muttersprachlern ist eine der effektivsten Methoden, um eine Sprache zu lernen. Suchen Sie nach Gelegenheiten, um mit estnischen Muttersprachlern zu sprechen und bitten Sie sie, Ihre Sätze zu korrigieren.
5. Nutzen Sie Sprachlern-Apps und Online-Ressourcen:
Es gibt viele Apps und Websites, die speziell für das Lernen der estnischen Sprache entwickelt wurden. Diese Ressourcen bieten oft interaktive Übungen und sofortiges Feedback.
Zusammenfassung
Die kontinuierlichen Zeitformen im Estnischen unterscheiden sich erheblich von denen im Deutschen. Das Estnische verwendet keine spezielle Konstruktion wie „sein + Partizip I“, sondern drückt kontinuierliche Handlungen durch das inessive Gerundium und temporale Adverbien aus. Das Verständnis dieser Konstruktionen erfordert Übung und Geduld, aber mit den richtigen Methoden und Ressourcen können Sie diese Herausforderung meistern.
Denken Sie daran, dass Sprachelernen ein kontinuierlicher Prozess ist. Je mehr Sie üben und sich mit der Sprache beschäftigen, desto vertrauter werden Ihnen die Strukturen und Nuancen. Bleiben Sie motiviert und nutzen Sie jede Gelegenheit, um Ihr Estnisch zu verbessern.