Die estnische Sprache gehört zur finno-ugrischen Sprachfamilie und unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von den indoeuropäischen Sprachen, zu denen auch Deutsch gehört. Eine dieser Unterschiede zeigt sich in der Vergangenheitsform, die für deutsche Muttersprachler eine besondere Herausforderung darstellen kann. Dieser Artikel bietet einen umfassenden Überblick über die Bildung und Verwendung der Vergangenheitsform im Estnischen, ergänzt durch zahlreiche Beispiele zur Veranschaulichung.
Grundlegende Formen der Vergangenheit
Im Estnischen gibt es zwei hauptsächliche Vergangenheitsformen: das einfache Präteritum (Imperfekt) und das Perfekt. Beide Formen werden verwendet, um Handlungen oder Zustände in der Vergangenheit auszudrücken, aber sie unterscheiden sich in ihrer Anwendung und Bedeutung.
Das einfache Präteritum (Imperfekt)
Das einfache Präteritum wird verwendet, um abgeschlossene Handlungen oder Zustände in der Vergangenheit zu beschreiben, ohne dabei einen besonderen Bezug zur Gegenwart herzustellen. Es entspricht in etwa dem deutschen Präteritum.
Beispiele:
– Ma käisin eile poes. (Ich ging gestern einkaufen.)
– Ta sõi hommikusööki. (Er/Sie aß Frühstück.)
Die Bildung des Präteritums erfolgt durch das Anhängen bestimmter Endungen an den Verbstamm. Diese Endungen variieren je nach Person und Numerus. Hier sind die Endungen für ein regelmäßiges Verb (nagu „käima“ – gehen):
Präteritum-Endungen für regelmäßige Verben:
– 1. Person Singular: -sin (käisin – ich ging)
– 2. Person Singular: -sid (käisid – du gingst)
– 3. Person Singular: -s (käis – er/sie/es ging)
– 1. Person Plural: -sime (käisime – wir gingen)
– 2. Person Plural: -site (käisite – ihr gingt)
– 3. Person Plural: -sid (käisid – sie gingen)
Bei unregelmäßigen Verben können die Endungen und der Verbstamm variieren. Es ist wichtig, diese Formen individuell zu lernen.
Das Perfekt
Das Perfekt wird verwendet, um Handlungen oder Zustände auszudrücken, die in der Vergangenheit begonnen haben, aber noch Auswirkungen auf die Gegenwart haben oder die Gegenwart beeinflussen. Es entspricht in etwa dem deutschen Perfekt.
Beispiele:
– Ma olen juba söönud. (Ich habe schon gegessen.)
– Ta on Eestis käinud. (Er/Sie ist in Estland gewesen.)
Die Bildung des Perfekts erfolgt durch die Verwendung des Hilfsverbs „olema“ (sein) im Präsens und das Partizip Perfekt des Hauptverbs. Das Partizip Perfekt wird in der Regel durch Hinzufügen der Endung -nud oder -tud an den Verbstamm gebildet.
Beispiele:
– Verb „sööma“ (essen): söönud (gegessen)
– Verb „käima“ (gehen): käinud (gegangen)
Perfektformen des Hilfsverbs „olema“ (sein):
– 1. Person Singular: olen (ich bin)
– 2. Person Singular: oled (du bist)
– 3. Person Singular: on (er/sie/es ist)
– 1. Person Plural: oleme (wir sind)
– 2. Person Plural: olete (ihr seid)
– 3. Person Plural: on (sie sind)
Verwendung der Vergangenheitsformen
Die Wahl zwischen dem einfachen Präteritum und dem Perfekt hängt von der Bedeutung und dem Kontext ab. Im Folgenden werden einige typische Verwendungen beider Vergangenheitsformen erläutert.
Verwendung des einfachen Präteritums
Das einfache Präteritum wird häufig in Erzählungen, Berichten und historischen Darstellungen verwendet, wo es um abgeschlossene Handlungen oder Ereignisse in der Vergangenheit geht.
Beispiele:
– Aastal 1991 Eesti taasiseseisvus. (Im Jahr 1991 wurde Estland wieder unabhängig.)
– Eile ma kohtasin vana sõpra. (Gestern traf ich einen alten Freund.)
Es wird auch in alltäglichen Gesprächen verwendet, um abgeschlossene Ereignisse in der Vergangenheit zu beschreiben.
Beispiele:
– Ma lugesin selle raamatu eelmisel nädalal. (Ich las dieses Buch letzte Woche.)
– Kas sa nägid seda filmi? (Hast du diesen Film gesehen?)
Verwendung des Perfekts
Das Perfekt wird verwendet, um Handlungen oder Zustände zu beschreiben, die in der Vergangenheit begonnen haben, aber noch Auswirkungen auf die Gegenwart haben. Es wird häufig verwendet, um Erfahrungen oder Veränderungen zu beschreiben.
Beispiele:
– Ma olen seda laulu varem kuulnud. (Ich habe dieses Lied schon früher gehört.)
– Ta on viimase aasta jooksul palju õppinud. (Er/Sie hat im letzten Jahr viel gelernt.)
Es wird auch verwendet, um Handlungen zu beschreiben, die in der Vergangenheit begonnen haben und bis in die Gegenwart andauern.
Beispiele:
– Ma olen siin elanud viis aastat. (Ich lebe hier seit fünf Jahren.)
– Nad on töötanud selle projekti kallal kuu aega. (Sie arbeiten seit einem Monat an diesem Projekt.)
Besondere Fälle und Ausnahmen
Wie in jeder Sprache gibt es auch im Estnischen besondere Fälle und Ausnahmen bei der Bildung und Verwendung der Vergangenheitsformen. Ein paar dieser Besonderheiten sollen hier kurz erläutert werden.
Unregelmäßige Verben
Einige Verben sind unregelmäßig und folgen nicht den üblichen Regeln für die Bildung des Präteritums und des Perfekts. Diese Verben müssen individuell gelernt werden. Ein Beispiel für ein unregelmäßiges Verb ist „minema“ (gehen).
Beispiele:
– Präteritum: läksin (ich ging), läksid (du gingst), läks (er/sie/es ging)
– Perfekt: olen läinud (ich bin gegangen), oled läinud (du bist gegangen), on läinud (er/sie/es ist gegangen)
Verwendung in der indirekten Rede
In der indirekten Rede kann die Wahl der Vergangenheitsform je nach Kontext variieren. Häufig wird das Präteritum verwendet, um die ursprüngliche Aussage in der Vergangenheit wiederzugeben.
Beispiele:
– Ta ütles, et ta käis eile kinos. (Er/Sie sagte, dass er/sie gestern im Kino war.)
– Nad rääkisid, et nad olid juba söönud. (Sie sagten, dass sie schon gegessen hatten.)
Futur II als Vergangenheitsform
Das Futur II kann auch verwendet werden, um eine abgeschlossene Handlung in der Zukunft auszudrücken, die vor einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft abgeschlossen sein wird. Es kann jedoch auch verwendet werden, um eine abgeschlossene Handlung in der Vergangenheit auszudrücken, wenn der Fokus auf der Vollendung der Handlung liegt.
Beispiele:
– Ma olen selle töö lõpetanud, kui sa tagasi tuled. (Ich werde diese Arbeit beendet haben, wenn du zurückkommst.)
– Ta on kindlasti juba koju läinud, kui sa sinna jõuad. (Er/Sie wird sicherlich schon nach Hause gegangen sein, wenn du dort ankommst.)
Zusammenfassung
Die Vergangenheitsformen im Estnischen können für deutsche Muttersprachler eine Herausforderung darstellen, da sie sich in ihrer Bildung und Verwendung von den deutschen Vergangenheitsformen unterscheiden. Das einfache Präteritum wird verwendet, um abgeschlossene Handlungen oder Zustände in der Vergangenheit zu beschreiben, während das Perfekt verwendet wird, um Handlungen oder Zustände auszudrücken, die in der Vergangenheit begonnen haben, aber noch Auswirkungen auf die Gegenwart haben.
Es ist wichtig, die Regeln und Besonderheiten der Vergangenheitsformen im Estnischen zu verstehen und zu üben, um sie korrekt anwenden zu können. Mit Hilfe der in diesem Artikel vorgestellten Beispiele und Erklärungen können deutsche Lernende einen soliden Grundstein für das Verständnis und die Verwendung der Vergangenheitsformen im Estnischen legen.
Um die Beherrschung der estnischen Vergangenheitsformen zu vertiefen, empfiehlt es sich, regelmäßig estnische Texte zu lesen, Hörverständnisübungen zu machen und sich aktiv an Gesprächen zu beteiligen. Auf diese Weise wird die Anwendung der Vergangenheitsformen im Kontext geübt und gefestigt.
Durch kontinuierliches Lernen und Üben können deutsche Muttersprachler die estnischen Vergangenheitsformen immer besser verstehen und anwenden, was ihnen dabei hilft, flüssiger und genauer auf Estnisch zu kommunizieren.